1913
Egon Erwin Kisch:
Bombardement und Basarbrand von Skutari
Egon Erwin Kisch (1885-1948) war ein jüdischer Journalist aus Prag, der im deutschsprachigen Raum insbesondere in den Jahren der Weimarer Republik durch seine literarischen Reportagen zu Berühmheit gelang. Im Juni 1913 siedelte er nach Berlin um, wo seine Reportagen in Buchform als „Der rasende Reporter“, Berlin 1924, erschienen. Kisch war links organisiert und trat 1925 in die Kommunistische Partei Deutschlands ein. Seine Werke wurden später von den Nazis verboten und verbrannt. Das Buch „Der rasende Reporter“ enthält unter anderem eine Reportage über seinen Besuch in Skutari [Shkodra], kurz nachdem die Stadt während des montenegrinischen Angriffs im Frühjahr 1913 abgebrannt wurde.
Egon Erwin Kisch (1885-1948),
aufgenommen in Melbourne im Jahre 1934.
11. Mai 1913
Die Rauchsäule dort, in die sich die Feuersäule heute morgen verwandelt hat, ist unser Reiseziel:
Der Dampfer löst sich vom montenegrinischen Ufer und rollt durch die Mündung des Rijekaflusses, bis sich das Flußbett ins ungemessene weitet: Wir sind im Skutarisee. Er ist ganz von Vegetation erfüllt, von Bäumen, die bis an die Kronen im Wasser stehen, von Blattpflanzen, die sich glatt an die Oberfläche schmiegen, und von hohem Schilf. Durch dieses Gestrüpp der Wasserflora sind dünne Gäßchen gebahnt und mit Holzpflöcken markiert — das ist der Weg des Schiffes kreuz und quer, im Zickzack und in scharfen Kurven. In der Weite die Berge Albaniens, zwischen denen heute die irdische Wolke ist. An Lesandro geht's vorbei, wo vor 1877 die größte türkische Festung stand, an Grmosur, wo das Zuchthaus Montenegros steht. Nach zwei Stunden sind wir in Virpasar, steigen um und schwimmen auf der „Neptun" gegen Skutari; das Krunjagebirge, steil, finster und zerrissen, steht rechts, und fern der Tarabosch, das Dörfchen Ckla, wo Kronprinz Danilo in dieser Woche die Parlamentäre Essad Paschas empfing, die Dörfer Zogaj und Sirocki Vir, über deren Dächer hinweg, von der letzten Position auf dem Tarabosch, bisher täglich Tausende von Schüssen krachten, die Bergkette Bardanjol und hinten das Berticagebirge.
Aus dem Wasser ragen zwei Kamine eines gesunkenen Dampfschiffes und das Heck hervor. Vom Topp eines starken Mastes verlaufen Dreiecke in den See — ein Segelschiff, das von den Bergen aus zusammengeschossen wurde. Dort wieder der Segelmast eines Wracks. Wieviel Menschen liegen auf dem Grund? — Kilometerlange Stacheldrahtanlagen haben die Türken aufgerichtet, bis hart an das Ufer und weit über das Ufer hinaus in den See, um das unbemerkte Herankommen von Schiffen zu verhindern.
Die Zitadelle Skutaris überschattet uns, der Mrnjacwicagrat über dem Bojano. Auf der Zinne ist der blau-rot-weiße Triumph gehißt, die Montenegriner Fahne. Darunter die Altstadt, aus der die letzten Flammen des Brandes emporschlagen, in Rauchmassen gehüllt.
„Neptun" wirft Anker, ganz nahe der Stelle, wo der Skutarisee als Bojano in die Adria abfließt. Große Barken mit schmutzigen Albanerbuben drängeln sich an das Schiff, keifend und zerrend versucht jeder in sein Fahrzeug die meisten der aussteigenden Dampferpassagiere zu locken, um sie gegen ein Fährgeld von einem Piaster zur Bojanobarre zu rudern. Längs großer Maismagazine geht der Weg, bis er plötzlich in die Hauptstraße der „Tepé", des alten Basarviertels, abbiegt.
Hier ist die ungeheure Brandstätte. Monatelang hatte der Basar, diese in Korridore und dumpfe Hallen eingepferchte Stadt von Geschäften und Verkaufsständen, das Feuer der Geschütze von Tarabosch und Bardanjol überstanden, eine Zeit, da es keine Wasserzufuhr und kein Löschgerät gab. Gestern aber, am zweiten Tag nach beendigter Belagerung, hat ein glimmendes Zigarettenstümpfchen oder der Funken eines Holzkohlenherdes die achthundert Kramläden in eine einzige Pechfackel verwandelt. So hochauf loderte die Flamme, daß sie uns auf der anderen, fernen Seite des Sees erschreckte.
Jetzt ist alles tot, was gestern noch Leben war, jetzt ist alles Schutt, was gestern Ware war. Ein Kordon von Soldaten sperrt die Zugänge in die rauchenden Reste der Gewölbe. Nichts steht von den Hallen als die Seitenwände. Zwischen ihnen Steine, zertrümmerte Ziegel, zerronnene Zinngefäße, verkohltes Leder, geborstene Schränke, rußige Scherben, stinkender Tabak, durchlöcherte Decken, zerfetzte Posamenten, vernichtetes Küchengerät — ein wertloser Brei von Dingen, die gestern noch den Käufer locken sollten und heute nicht mehr wert sind, vom letzten Bettler aufgeklaubt zu werden. Nichts hat das Feuer verschont, sogar der Blechverschluß eines Portemonnaies, das auf den Steinfliesen liegt, ist verbogen, und die zerschmolzenen Kupferstückchen daneben waren schwerverdientes Geld.
Dampfer auf dem Skutarisee
(Foto: Marubi, ca. 1900).
Überall glimmt es unter der Asche, und die Luft, als könnte sie es nicht glauben, daß ihr die Basarwölbungen nicht mehr wie seit Jahrhunderten den Ausgang verwehren, stockt in ihrem alten Käfig: Aus den Schuttvulkanen und den glosenden Holzresten steigen Rauchschwaden auf, aber sie wollen nicht fort, sie bleiben zwischen dem senkrechten Gemäuer. Alle Gassen, zweiunddreißig Häuserblocks sind so niedergebrannt, daß man nichts sieht als die Ziegelfassaden, oft selbst solche nicht — nur öde Abraumplätze, die Stellen, an denen hölzerne Häuser waren. Menschen, deren Habe hier in den letzten Rauch aufgeht, werden eingelassen in die Siedlung von Brandresten. Kein Wehklagen hört man. Weiber suchen hoffnungslos in den Scheiterhaufen nach irgendeinem Kleinod ihres Krames, Kinder sitzen auf den neuen schwarzen Hügeln und spielen mit merkwürdig zerlassenen Metalldingen. Vor einem der feuerspeienden Kegel hockt ein Türke mit untergeschlagenen Beinen, schaut ins Leere und saugt tiefe Züge durch die Zigarettenspitze; Tabakdose und Seidenpapier liegen, zu schnellem Ersatz bereit, ihm zu Füßen. Quittengelb ist sein Gesicht, die Krähenfüße an den Augenwinkeln und die Falten von der Nasenwurzel zum Mund haben ihm Koffein und Nikotin gepflügt und die rivalen Lockungen seiner Frauen. Den hohlen Blick vererbten ihm jedoch sein Stamm und sein Glauben: Vorbestimmt ist dir dein Schicksal. Im Buche des Lebens war's von Anbeginn an verzeichnet, daß die Tepé von Skutari niederbrennen werde, gestern, am soundsovielten Tage des soundsovielten Jahres nach der Hedschra, am Tage, da es in die Hände der Ungläubigen fällt.
Erschöpft steht eine Feuerspritze da. Sie hat das Löschungswerk zu vollbringen versucht. Sie allein. — Rauch schnürt die Kehle ein, Gestank dringt in die Nase, Ruß in die Netzhaut. Ein verkohlter Hund fletscht das Gebiß ... Fort aus dem Bereich, in dem das Element zeigen wollte, daß es den verheerenden Wirkungen der Menschen noch verheerendere entgegenzusetzen vermag.
Aus der Stickluft führt der Weg durch einen moslemitischen Steinfriedhof, der an die berühmte Gräberstätte des anderen, des asiatischen Skutari erinnert. Mag die Totenstadt des albanischen Skutari auch kleiner sein, sie ist nicht minder betäubend. Du gehst durch einen heliotropfarbenen Wald von Blüten, Schwertlilien sind es, die auf den Türkengräbern wachsen und die eingehauenen Suren verdecken.
Das Zollamt in Skutari, ca. 1900.
Die Hauptstraße der Stadt. Niedrige Häuser, ganz zusammengeschossen oder halb eingefallen vor Schreck über die Kanonade, aber noch immer bewohnt, geflochtene Fenster, ein Flüßchen führt Schmutz und Kot an den Häusern vorbei, doch ranken sich Rosen die Stiegen hinauf, und Akazien duften. Unter Ulmen: Kaffeehäuser, das Nargileh steht auf dem Tisch und vereinigt mit seinen Schläuchen alle Gäste zu einem einzigen überlebensgroßen Tier mit vielen Köpfen. Die Verkaufsläden haben keine Fenster, nur horizontale Bretter, auf denen die Inhaber und ihre Gäste kauern. Tabakläden überwiegen. Vor braunen Hügeln von Zigarettentabak sitzen Händler, und eine herabhängende Kaufmannswaage ist ihr einziges Gerät. In offenen Bäckereien werden bizarre Kuchen und weißes Brot von wenig vertrauenerweckenden Händen gebacken. Schuster arbeiten coram publico, Krämer mit Feigen, mit Schafkäse, Datteln, Brennholz, Zwiebeln, Mais und den Blütenrippen des Sumachbaumes, der nur hier wächst und dessen Blüten zum Gerben und zum Schwärzen von Fellen, zum Säuern des Essigs und Aromatisieren des Tabaks verwendet werden. Durch die ganze Stadt läuft das Geleise einer schmalspurigen Förderbahn, aber sie fährt nicht, die Strecke ist zerschossen. Achttausendfünfhundert Artilleriegeschosse hat die Stadt während der Belagerung abbekommen.
Auf dem enormen Hof, der von drei Kasernentrakten und jenseits der Straße von dem im Bau begriffenen Spital gebildet wird, stehen die montenegrinischen Truppen in Reih und Glied zum Gebet. Mit einem Aviso zum Živeo-Ruf, den tausend Stimmen wiederholen, wird weggetreten. An die niedere Wegmauer gelehnt sind Türken und Albaner und schauen staunend zu.
Ansichtskarte von dem zerstörten Stadtteil von Skutari.
Achttausend montenegrinische Soldaten sind in Skutari, die meisten in braungrünen Felduniformen, aber auch der krapproten Duschanka mit den zugehörigen blauen Leinwandhosen begegnet man auf Schritt und Tritt; viele Landstürmer mit blaurot-weißen Dienstschleifen und Gewehren, Patrouillen zu Fuß und zu Pferde, abgemagerte und zerlumpte Türkensoldaten in der moosgrünen Montur, montenegrinische Offiziere mit Goldepauletten und grauen Tellerkappen, mit dem „Grb", türkische Offiziere mit ihren Säbeln und den hohen Pelzmützen, reiche Albanerinnen mit rosa-silber-durchwirkten Blusen, goldgestickten Haarbändern, weiten, geblümten Tuniken und faßartigen Pluderhosen, Haremsfrauen in Schwarz und verschleiert, türkische Bäuerinnen mit weißen Männerhosen aus Leinwand unter dem kurzen Rocke, Skipetaren, Arnauten, Malissoren, helle Gegen und negerfarbene Tosken, die Männer in weißer Fustanella, einem plissierten Frauenrock, Strümpfe aus gegerbter Schafshaut und Schnabelschuhe, Zigeuner in Lumpen und Zigeunerinnen in Teppichstoffen. Aus einem Geographiebuch, betitelt „Das Land der Skipetaren", sind die Buntdruckfiguren zum Leben erwacht und wandeln und reden, reden alle Mundarten, die man von der Adria bis zum Pindus, von Skutari bis zum Golf von Arta spricht, man hört aber auch Türkisch, Griechisch, Serbisch und Italienisch. Auf ein Goldstück bekommt man vielerlei Geld zurück: Piaster, Dinare, Lire, Kronen und so weiter.
In Skutari gibt es zwei Hotels, jedoch auch im dritten finde ich keine Unterkunft. Während ich mit dem Portier verhandle, kommt der abgesetzte türkische Polizeipräsident und Stadthauptmann von Skutari, Suleiman Bey, und bietet mir an, bei ihm zu übernachten. „Oh, je suis charmé, mon président!" — „Vous me connaissez?" — Er hat mich gestern bei der Hoftafel König Nikitas in Cetinje nicht beachtet, sich zumindest meine Physiognomie nicht gemerkt, und scheint jetzt nicht sehr erfreut, daß es ein Bekannter, noch dazu einer aus dem Konak ist, dem er zufällig ein Nachtlager angeboten hat. Warum? Und was hatte er eigentlich in diesem letztrangigen Gasthof zu suchen? (Allerdings fielen mir diese Verdachtsmomente erst später ein.)
Wir gehen zu seiner Villa, die vor der Stadt liegt, durch Straßenzüge von Ruinen. Unterwegs erzählt mir der bewegliche, korpulente Herr, daß er vor drei Tagen, nach der Einnahme der Stadt, von einer montenegrinischen Eskorte nach Cetinje gebracht, aber vom König sehr leutselig aufgenommen worden ist; nach Abgabe seiner Loyalitätserklärung wurde er zur Hoftafel eingeladen und ihm die Bewilligung erteilt, unbehelligt zurückzukehren. Seine Villa ist zwar von Montenegrinern besetzt, doch der Gartensalon ist frei geblieben, und es stehen zwei Betten darin. Ich frage ihn, ob er verheiratet ist. — „Marié? Moi et marié! Non, monsieur, pas du tout!"
In diesen Gassen, wo ihn einst alles furchtsam und ehrerbietig grüßte, schaut man dem wegen seiner goldstrotzenden Uniform Auffallenden nur verächtlich, höhnisch nach. Suleiman Bey weist auf ein Cafe, in dem montenegrinische Offiziere beim Mokka sitzen. „Hier tranken wir in Eile einen Kaffee, wenn wir einen Augenblick Zeit hatten. Jetzt sitzen diese Cochons den ganzen Tag da!"
Er läßt es sich deutlich anmerken, daß ihm furchtbar zumute ist, weil in seiner Machtsphäre die Feinde herrschen. „Mais, que faire, am Schlusse waren bloß acht türkische Bataillone hier, Konstantinopel ließ uns im Stich."
Die Stadt bleibt hinter uns, wir kommen zur ummauerten Villa. Der Gartensalon ist eine Rumpelkammer geworden — vollgepfropft mit Möbeln aus allen Räumen. Die beiden Betten sind wirklich vorhanden. Der Herr Präsident will mir beim Auskleiden behilflich sein, aha, die berühmte orientalische Gastfreundschaft, denke ich, und bloß durch Entschiedenheit kann ich mich seiner Liebenswürdigkeit entziehen. Müde falle ich ins Bett. Aber der Herr Polizeipräsident, der doch heute die gleiche anstrengende Landpartie über die Felsenstraßen Montenegros und die gleiche Fahrt über die Wellen des Skutarisees gemacht hat, scheint durchaus nicht schläfrig zu sein. Er setzt sich auf mein Bett; streichelt mir Wangen und Hals, was unmöglich die berühmte orientalische Gastfreundschaft sein kann. Plötzlich springt er auf und geht zur Tür, um nachzusehen, wer über die Treppe gehe. „Natürlich montenegrinische Offiziere", brummt er, „die Kerle trampeln wie die Pferde!"
Er will die Tür hinter sich abschließen, aber ich bitte ihn, sie unversperrt zu lassen. Ich bitte ihn sehr energisch, denn ich habe den Augenblick benützt, um aus meiner Hose den Browning zu nehmen, entschlossen, meine Unschuld zu verteidigen. Suleiman Bey hat das wohl bemerkt, denn er läßt achselzuckend den Schlüssel wieder los. Indigniert legt er sich zu Bett.
Sicherlich bedauert er, mir das Nachtlager angeboten zu haben.
Ich auch.
[Egon Erwin Kisch, Bombardement und Basarbrand von Skutari, aus dem Band Der rasende Reporter, Berlin 1924.]