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Robert Elsie

Texte und Dokumente zur albanischen Geschichte

 
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1914
Bajazid Elmaz Doda:
Wanderungen der Schafhirten des Oberen Rekatales (Makedonien)

Das menschenleere Obere Rekatal an der albanisch-makedonischen Grenze war einst Heimat albanischer Hirten. Der Verfasser dieses Textes, Bajazid Elmaz Doda (ca. 1888-1933) von dem nun verlassenen Dorf Schtirowitza [Shtirovica], war Privatsekretär und Lebensgefährte des ungarischen Gelehrten und Albanologen, Franz Baron Nopcsa (1877-1933). In seinem 1914 verfassten und posthum erschienenen Buch “Albanisches Bauernleben im Oberen Rekatal bei Dibra (Makedonien)” bietet Doda einen Einblick in das Leben der albanischen Hirten, die jeden Winter ihre Herde aus dem Sharrgebirge an die Ägäisküste und sogar bis nach Kleinasien trieben.

Bajazid Elmaz Doda (ca. 1888-1933)



Bajazid Elmaz Doda (ca. 1888-1933)

Der Abzug von der Alm

Der Aufbruch von der Sennhütte vollzieht sich ohne besondere Feier. Zuerst tragen die Packpferde die Butter zu Tal, dann folgen die Körbe und die übrigen Geräte. Ist dies geschehen, so gibt der śehaj [Pächter] ein Abschiedsmahl, in dem reichlich gebutterten katschamak die Hauptrolle spielt. Am folgenden Tag verlässt der śehaj mit batsch [Käsemacher] und fitsch [Gehilfe des Käsemachers] die Hütte. Der śehaj begleitet den mit seinem Käseanteil usw. abziehenden batsch bis Tetowo, damit diesem bis dorthin kein Unglück zustoße. Die Hirten bleiben mit den teils zu 1000 Stück, teils nach ihren Eigentümern abgeteilten aber aus allerhand Schafen bestehenden Herden noch ein oder zwei Tage auf ihren Weiden. Dann beziehen sie, wenigstens über Nacht, tiefere und dem Dorfe näher gelegene Lagerplätze. Tagsüber treiben sie, falls es das Wetter zulässt, die Schafe noch immer in die höheren Regionen, im allgemeinen macht sich aber ein Rückzug vom Gebirge bemerkbar. Infolge der Nähe der Dörfer brauchen sich die Hirten ihre Mahlzeiten meist nicht zu bereiten, auch keine eigenen Schutzhütten zu bauen. Während des Aufenthalts der Herden in der Nähe des Dorfes pflegt sich auch die Interessengemeinschaft der bisher zusammengestandenen Herdenbesitzer aufzulösen, und die Herdenbesitzer, je nachdem ob sie es für vorteilhaft befinden, pflegen sich zu neuen die Pachtung der Winterweide ins Auge fassenden Konsortien zu vereinigen. Da während dieser meist 3-4 Wochen dauernden Übergangsperiode zwischen Sommer- und Winterleben Ersatzleute leicht zu haben sind, pflegen auch die Schafbesitzer ihre Hirten, die ja häufig verheiratet sind, auf einige Wochen nach Hause zu beurlauben.

Marsch auf die Winterweide

Wenn der Hirt von seinem Urlaube zurückkehrt, zählt der śehaj in seiner Anwesenheit die Herden und dann beginnen Hirten und Herden ihren Wandermarsch gen Süden. Sollen die Herden im Süden nur überwintern, so sind meist Saloniki, Serres und Drama das Ziel des Marsches. Sind es aber Hammelherden, die anlässlich des Bajram in Konstantinopel verkauft werden sollen, so wird in einem Zuge bis an die Küste Kleinasiens, also 800 Kilometer weit (!), zu Fuß gewandert. Schon der Marsch nach Saloniki nimmt, auch wenn fast Tag und Nacht marschiert wird, wegen der Langsamkeit der Fortbewegung sechs Wochen in Anspruch, und dementsprechend beträgt die Marschdauer nach Anatolien beinahe drei Monate.

Ein Hirt mit seinen Schafen in Bedyqas bei Përmet (Foto: Robert Elsie, März 2008)

Was die einzelnen, seit Generationen eingehaltenen Marschrouten anbelangt, so folgt die nach Saloniki naturgemäß dem Wardartal. Der Weg nach Serres und Drama führt über Üsküb, den Kaplan-See (auch Blato Skupit genannt), Schtip [Štip], Radovschte [Radoviš], Petritsch [Petrič] und Demirhissar [Demir Hisar]. Nach Kleinasien gelangt man von Drama über Kawalla, Džümurdžina, Ipsala, Gallipoli und Panderma [Bandirma]. Die Herden selbst lässt man in Anatolien oft in der Gegend von Muhalitsch in Bithynien. Erwähnenswert ist, dass dem an der Spitze einer Herde marschierenden Hirten während seines ganzen Marsches von 600 km beim Finden des Weges kein anderes Hilfsmittel zur Verfügung steht als sein gutes Gedächtnis, das ihn sogar dann nicht im Stiche lassen darf, wenn die Herde bloß bei Sternenschein auf ganz unscheinbaren Saumwegen einherzieht. Dass der Hirte sich nicht an Chausseen halten kann, dafür ist von der türkischen Regierung hinlänglich gesorgt worden, die solche in vergangener Zeit überhaupt nicht gebaut hat. Es versteht sich von selbst, dass dem an der Spitze der Herde schreitenden Hirten in Anbetracht seiner Verantwortung das Befehlshaberrecht über alle anderen bei einer Herde befindlichen Hirten zusteht. Was die Marschordnung selbst anbelangt, so hat jede größere Herde vier Hirten, deren Habseligkeiten meist von zwei Eseln geschleppt werden. Außerdem begleitet mehrere nahe beisammen marschierende Herden je ein Reiter, der śehaja dhenet. Dieser hat für die Verproviantierung der Hirten zu sorgen. Da es die Herden wegen Futtermangel vermeiden, größere Städte zu berühren, es sei denn, dass deren Umgehung nicht möglich ist, wie z. B. bei Kawalla, so reitet der śehaja dhenet stets voraus und kauft für die Hirten Tabak und Viktualien.

Ein Hirt mit seinen Schafen in Bedyqas bei Përmet (Foto: Robert Elsie, März 2008)



Ein Hirt mit seinen Schafen in Bedyqas bei Përmet
(Foto: Robert Elsie, März 2008)

Es versteht sich von selbst, dass die in der Nacht marschierenden Hirten jede halbwegs günstige Gelegenheit nützen, um ihre Herden auf etwaigen, am Wege liegenden Ackerfeldern in ausgiebiger Weise weiden zu lassen; ja der vorne marschierende Hirt sorgt bei solcher Gelegenheit für ein möglichst schneckenartiges Tempo. Sowie die Beschleunigung des Schrittes an der Spitze einer Herde diese auseinander zieht, so bedingt jede Verlangsamung an dieser Stelle bei der nachfolgenden Herde eine Ausdehnung in die Breite, und, um ihr ein ausgiebiges Abweiden abseits der am Wege gelegenen Felder zu erzielen, braucht man nur die Spitze einer marschierenden Herde etwas an der Vorwärtsbewegung, sei es auch nur durch Schreckrufe, zu hindern. Bei einem fügsamen Leithammel kann ein geschickter Hirte vor Zuschauern den Schein erwecken, als ob er sein Möglichstes täte, die Herde am Weiden zu hindern, während er gerade das Gegenteil bezweckt. Eine Gefahr, die den Herden auf der Wanderung in der Ebene von Saloniki häufig droht, sind grasbedeckte Fallgraben, die von den Bewohnern jener Gebiete eigens deshalb angelegt werden, damit das eine oder andere Schaf der vorbei ziehenden Herde unbemerkt darin verschwinde.

Ungefähr vier Wochen nach Aufbruch der Herden von Reka gen Süden folgen die hergele, die natürlich viel schneller marschieren als die Schafe und von Reka nach Saloniki höchstens 8-10 Tage brauchen. Der Herdenbesitzer, der von seinen Konsortien mit der Pachtung der Winterweide betraut war, erreicht seinen Bestimmungsort entweder mit den hergele oder, falls er, wie es oft geschieht, die Bahn benützt, noch vor diesen.

Die Pacht der Winterweiden, wo die Rekaner-Herden nicht ganz ein halbes Jahr verbringen, ist bedeutend teurer als die der Almen. Preise von 100 bis 200 türk. Pfund (2200-4400 Kronen) sind keine Seltenheit. Wie schon gesagt, befinden sich diese Weideplätze vorwiegend an den Küstenniederungen des Mittelmeeres.

Gelangt die Herde an den für sie bestimmten Platz, so errichten die Hirten für sich selbst aus dem nächstbesten Baumateriale eine Hütte an einem trockenen Orte. Für die Herde bauen sie gleichfalls an einem erhöhten Platze eine torla (auch agole genannt). Da sich die Winterweiden bei Saloniki usw. in der Regel in den zur Landwirtschaft unbrauchbaren sumpfigen Gebieten befinden, errichtet man koliba [Hütte] und torla in der Regel aus Röhricht.

Über den Bau der gedeckten koliba sei nur bemerkt, dass sie aus einer nach hinten gelegenen Kammer besteht, wo man die Effekten, die Packsättel, die zum Wechseln benötigte Leibwäsche u. dgl. unterbringt, und aus einem Vorderraume, in dem gekocht wird. Eine eingehendere Besprechung verdient nur die torla. Dies ist eine aus aufrecht stehendem Rohr gebaute, einen kreisförmigen oder elliptischen Raum einschließende Wand, die man mittels gerebelter Ruten (gjuschma) an in den Boden gestoßenen Holzsäulen befestigt. An einer Stelle ist eine Öffnung, die dazu dient, die darinnen schlafenden Schafe vor Wind und Wetter einigermassen zu schützen. Die Größe einer torla wird so bemessen, dass in ihrem natürlichen ungedeckten Raume annähernd 500 Schafe Platz finden. Für eine mehr als 600 Schafe umfassende Herde errichtet man mehrere torlen. Mehr als rund 500 Tiere lässt man in einer torla nicht gern übernachten, weil dadurch der Boden in der torla allzu tief aufgewühlt und daher bei Regenwetter einfach grundlosen Kot erzeugen würde.

Zwei Mohammedaner aus Ober-Reka (Foto: Bajazid Elmaz Doda, 1907, ÖNB/Wien Bildarchiv NB902071B)



Zwei Mohammedaner aus Ober-Reka
(Foto: Bajazid Elmaz Doda, 1907,
ÖNB/Wien Bildarchiv NB902071B)

Zwei Mohammedaner aus Ober-Reka (Foto: Bajazid Elmaz Doda, 1907, ÖNB/Wien Bildarchiv NB902071B)

Bei Serres und Saloniki weiden die Herden tagsüber. Während des ganzen Winters nach Sonnenuntergang führt man sie hinein in die torla. Die Hirten nehmen in der koliba ein meist aus Brot, Käse, Bohnen, Fleisch oder dgl. bestehendes Abendessen ein, dann legen sie sich um die torla an jenen Stellen schlafen, von denen der Herde von Wölfen, Schakalen oder Menschen am ehesten Gefahr drohen kann. Die nächtliche Bewachung der koliba ist dem odadži überlassen. Der bis zur Niederlassung der Herde an ihrem neuen Weideplatz daselbst anwesende śehaj kann nach diesen Vorsichtsmaßregeln die Herde, falls er einen guten Hirten hat, unbesorgt verlassen und nach Hause zurückkehren, um erst bei der Geburt der Lämmer wieder am Schauplatze zu erscheinen.

Während ihres Aufenthaltes im Süden sind die rekanischen Hirten keineswegs unschuldige Engel. Ein beliebter, allerdings unter Hirten weit bis nach Ungarn, verbreiteter Trick besteht darin, dass sie sich eine absolut ungenügende Weide pachten, um auf diese Weise inmitten eines ergiebigen Weidelandes einen rechtlichen Stützpunkt zu haben und dann den Hirten den Aufrag zu geben, die Herde tagsüber ruhen, in der Nacht aber desto intensiver das nicht gepachtete Gebiet abweiden zu lassen. Da zahlreiche Hirten dieser Beschäftigung obliegen, ist es dank der türkischen Unordnung sogar dann, wenn ein Saatfeld Tausende von Fährten aufweist, für dessen Eigentümer unmöglich, die schuldige Herde genau zu ermitteln.

Noch bunter als jene Hirten, die wenigstens formell einen Stützpunkt haben, treiben es die djokleme. Djokleme-Weiden nennt man jenen Zustand, wobei ein Hirte mit seiner Herde ununterbrochen umherstreift, einmal hier, ein andermal dort übernachtet und auf jede Anfrage, was er auf einer fremden Weide suche, die stereotype Antwort gibt: “ich ziehe zu meiner in einiger Entfernung (bei NN) gepachteten Weide.” Ein solches den ganzen Winter andauerndes Umherstreifen mit der Herde stellt natürlich sowohl an die physischen Kräfte als auch an die Entschlossenheit und Dreistigkeit der daran beteiligten Hirten hohe Anforderungen, und darum wird die Herde, wenn sie djokleme ist, stets von ihrem Eigentümer begleitet. Eine weitere Folge ist, dass nur relativ kleine Herden auf diese Weise überwintern können. Der einzige Termin, wo der djokleme weidende Hirte genötigt ist, eine Weide zu pachten, ist das Frühjahr, wenn die Schafe Junge zu werfen beginnen, und dies dauert, sofern die Schafe rechtzeitig und gleichmäßig belegt werden und nicht infolge irgendeiner Unordnung einige Widder schon im Spätsommer unter die Schafe gerieten, in der Regel 2-3 Wochen.

Über die sonstigen Untaten der Albaner in Makedonien wollen wir lieber einen Schleier breiten. Die Andeutung, dass die wie alle Albaner stets bewaffneten Hirten öfters Rindfleisch genießen, obwohl sich bei den Herden gar keine Rinder befinden, wird ohnehin genügen. Von solchem fremden Rindfleisch trennt man die Knochen ab, kocht das Ganze unter stetem Umrühren auf einem langsamen Feuer in seinem eigenen Fett und schüttet das ganze noch warm in einen Schlauch, wo das Fett erstarrt und die ganze Masse fest wird. Ein solches Fleischpräparat lässt sich sehr lange aufheben und heißt sesdorn.

Eine bedeutende Verteuerung erfährt das Überwintern der Schafe, wenn im Gebiete der Winterweide abnorm schlechtes Wetter oder, was häufig vorkommt, Hochwasser eintritt, das die Schafe am Weiden hindert und die Hirten nötigt, Futtervorräte, wie Heu u. dgl. zu kaufen.

Nach der Geburt der Lämmer geht man im Winterquartiere daran, die Tiere noch einmal zu scheren, wobei ein Schaf durchschnittlich zwei Kilo Wolle liefert. Man verkauft die leshi gjat genannte, überwiegend ungewaschene Wolle zu zwei Kronen das Kilo, und zwar vorwiegend an Fleischhauer. Die überflüssigen jungen Lämmer gehen zum Preise von 4-8 Kronen. Ist dies alles erledigt, so hat man den türkischen Behörden eine Kleinviehsteuer (dželep) von einer Krone pro Stück zu entrichten, und dann kann die Herde wieder ins Gebirge wandern. Die Steuerquittungen dienen bei diesem Wanderzuge gleichzeitig als Viehpass.

 

[Ausschnitt aus: Albanisches Bauernleben im Oberen Rekatal bei Dibra (Makedonien) von Bajazid Elmaz Doda, unter Mitwirkung von Franz Baron Nopcsa. Herausgegeben von Robert Elsie. Balkanologische Beiträge zur Sprach- und Kulturwissenschaft. Band 1 (Wien: Lit-Verlag, 2007).]

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