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Robert Elsie

Texte und Dokumente zur albanischen Geschichte

 
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1914
k. u. k. Vizekonsul Kohlruss:
Die Lage in Prizren

Der sogenannte Kohlruss-Bericht beschreibt die Zustände in Prizren ca. ein Jahr nach der serbischen Eroberung der Stadt am 3. November 1912. Er wurde dem k. u. k Außenminister Berchtold von seinem Vertreter in Prizren vorgelegt.

Sinan-Pascha-Moschee (1615) in Prizren (Foto: Robert Elsie, April 2010).



Sinan-Pascha-Moschee (1615) in Prizren
(Foto: Robert Elsie, April 2010).


K. u. k österr.-ung. Konsulat
Prizren

27. Jänner 1914
vertraulich

Situation

An Seine Exzellenz
dem Herrn Minister
des k. u. k. Hauses und des Aeussern,
Leopold Grafen Berchtold!

Als die Serben vor mehr als Jahresfrist in Prisren einzogen, verkündeten sie den "befreiten" Bewohnern dieser Gegenden die volle Gleichberechtigung aller Nationalitäten und Religionen. Ruhe, Ordnung und Gerechtigkeit sollten von nun an in dem neueroberten Lande walten.

Sie haben keines dieser Versprechen gehalten. Die Mohammedaner werden überall zurückgesetzt. Von den 32 in Prisren bestehenden Moscheen wurden nur 2 zu religiösen Funktionen freigegeben. Die restlichen dienen als Ställe, Heuschober, Kasernen, Magazine. Selbst in diesen 2 Djamien können die Mohammedaner nicht immer ihre religiösen Zeremonien abhalten, denn sie müssen sie oft mitten im Gebete verlassen, um serbischen Soldaten, die bei Platzmangel auch hier einquartiert werden, das Feld zu räumen. Die Muezins trauen sich nicht mehr, die "Gläubigen" vom Minarete zum Gebete aufzufordern, da ihre Rufe von serbischen Soldaten und Passanten mit Hohngelächter aufgenommen werden würden. Es heisst auch, dass bald die vielen Minarete der Stadt demoliert werden sollen.

Die Katholiken haben nur der Protektion der Schutzmacht zu verdanken, wenn sie ungestört ihre Kirchen und Geistlichen aufsuchen können.

Die Korruption der Beamtenschaft, welche sich nicht zum geringsten Teile aus gewesenen Komitadjis rekrutiert (z.B. früherer hiesiger Kreissekretär Studić, jetzt Nacalnik von Mitrovitza, welcher vor den Balkankriegen Chef der politischen Organisationen in Neuserbien war), und das Bakschischwesen lässt alles, was in dieser Beziehung unter den Türken geleistet wurde, weit hinter sich. Folgender Vorfall ist typisch für die auch unter höheren Funktionären herrschende Geldgier und Zugänglichkeit für "Bakschisch":

Als der Gemeindesekretär von Gjonaj ermordet wurde und die von den Serben eingeleitete Untersuchung in unzweifelhafter Weise ergab, dass der Mord von einigen Bewohnern dieses Dorfes verübt wurde, hatten die Militärbehörden beschlossen, dieses Dorf in Brand zu stecken. Wenige Tage vorher wurden wegen eines ähnlichen Vorfalles die Dörfer Ujzi und Fshaj von den Truppen zerstört. 200 türkische Pfund, welche die Bewohner von Fshaj dem hiesigen Kreispraefekten überbrachten, hatten zur Folge, dass Gjonaj verschont wurde.

Die infolge der Militärrequisitionen des Kriegsjahres ohnehin verarmte mohammedanische Land- und Stadtbevölkerung wird zu Abgaben herangezogen, die sie aufzubringen nicht im Stande ist und die nur zum Teile in die Staatskassen zum grösseren aber in die Taschen der Staatsfunktionäre fliessen.

Die traurige Lage, in der sich die Mohammedaner dieser Gegenden befinden, bringt es mit sich, dass sich diese mit dem Gedanken tragen nach Klein-Asien, Albanien, Bosnien auszuwandern. Allerdings glaubt auch jetzt noch der grösste Teil der mohammedanischen Albanesen fest, dass diese Gebiete nicht mehr lange den Serben verbleiben werden und sehen die serbische Herrschaft nur als einen Sturm an, der ähnlich wie seinerzeit die Expedition Thorgut Pascha's bald vorübergehen wird. Sobald aber auch diese Hoffnung geschwunden sein wird, dürfte eine Massenauswanderung des nicht serbischen Elementes erfolgen. Dies würde zwar ein politischer Schaden für die Albanesen, zugleich aber auch ein nicht geringerer ökonomischer Nachteil für die Serben sein, welchen zur Neubesiedelung dieser Gebiete kaum genügendes Menschenmaterial zur Verfügung stehen dürfte.

Im Übrigen werden auch unter den eingeborenen Serben selbst Stimmen der Unzufriedenheit über das neue Regime laut. Sie erhofften von der politischen Umgestaltung dieser Gebiete einen wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt und materielle Vorteile. Stattdessen wurden höhere Zölle und Abgaben eingeführt, die auch die Orthodoxen, wenn auch nicht in so hohem Masse wie Mohammedaner und Katholiken, zahlen müssen. Ausserdem ging für Prisren der grösste Teil seines Absatzgebietes, welcher zu Montenegro bezw. Albanien geschlagen wurde, verloren, da sich dieser den entlegeneren aber billigeren Märkten von Skutari bezw. Antivari zuwendete.

Dazu raubt den Serben die übertriebene Furcht vor Einfällen aus dem nahen Albanien - die Grenze ist stellenweise (Drin) in wenig mehr als einer Gehstunde zu erreichen - Ruhe und Schlaf, und die Regierung muss öfters, um die furchtsamen Serben der Stadt zu beruhigen. Gerüchte lancieren, dass die Grossmächte beschlossen hätten, die Grenze gegen Albanien bis zur Vezirbrücke vorzuschieben.

Gleichlautend berichte ich sub No. 11 nach Belgrad.

Der k. u. k. Vizekonsul,
Kohlruss

 

[Quelle: Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, PA XXXVIII 405.]

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Sinan-Pascha-Moschee (1615) in Prizren (Foto: Robert Elsie, April 2010).