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Robert Elsie

Texte und Dokumente zur albanischen Geschichte

   
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Franz Baron Nopcsa in Malessorentracht, ca. 1916.



Franz Baron Nopcsa
in Malessorentracht,
ca. 1916.

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1929
Franz Baron Nopcsa:
Reisen in den Balkan:
Die Lebenserinnerungen des
Franz Baron Nopcsa

Am 26. April 1933 veröffentlichte die Neue Freie Presse in Wien den folgenden Bericht:

 

Das blutige Drama in der Singerstraße

Der Gelehrte als Mörder und Selbstmörder

 

Wie berichtet, hat gestern vormittag der 55-jährige Privatdozent (Baron) Dr. Franz Nopcsa in seiner im dritten Stockwerk des Hauses I, Singerstraße 12, gelegenen Wohnung seinen langjährigen Sekretär, den 45-jährigen Albaner, Bajazid Elmas Doda, erschossen und sich dann selbst in seinem Arbeitszimmer vor dem Schreibtisch durch einen Schuß in den Mund entleibt. Die amtsärztliche Untersuchung stellte bei dem Sekretär fest, daß er zwei fast an der gleichen Stelle der linken Schläfe gelegene Einschüsse aufwies, die den Schädel durchbohrt haben, so daß die Projektile nach Austritt aus dem Kopf im Kopfpolster liegen blieben.

Nopcsa scheint die Tat mit Umsicht vorbereitet zu haben. Zahlreiche verschlossene Abschiedsbriefe an Verwandte und Bekannte, ein verschlossenes an einen Wiener Rechtsanwalt adressiertes Testament und andere Aufzeichnungen wurden gefunden. Daß auch materielle Schwierigkeiten mit ein Beweggrund zur Tat gewesen seien, kann außer den Angaben der Bedienerin, die seit vier Monaten keinen Lohn mehr erhalten hatte, auch daraus geschlossen werden, daß Franz Nopcsa, der mit Leib und Seele an seinen Büchern und Sammlungen hing, geplant hat, seine reichhaltige, viele Unika enthaltende Bibliothek ... zu verkaufen. ...

... ein Schreiben an die Polizei "Die Ursache meines Selbstmordes ist zerrüttetes Nervensystem. Daß ich auch meinen langjährigen Freund und Sekretär, Herrn Bajazid Elmas Doda, im Schlafe und ohne daß er es vorausgeahnt hätte, erschossen habe, liegt darin, daß ich ihn krank, elend und ohne Geld nicht auf der Welt zurücklassen wollte, da er dann zuviel gelitten hätte. Ich wünsche verbrannt zu werden."

 

So endete das bewegte Leben des Franz Baron Nopcsa von Felsöszilvás (1877-1933), eines der schillernsten Forscher und Gelehrten seiner Zeit. Als Sohn einer ungarischen Adelsfamilie wurde Nopcsa am 3. Mai 1877 auf dem elterlichen Gut Szacsal (Sacel) bei Hatzeg in Siebenbürgen geboren. Durch die Vermittlung seines Oheims und Taufpaten, Franz von Nopcsa (1815-1904), Oberhofmeister bei Kaiserin Elisabeth, konnte Nopcsa seine Matura am Maria-Theresianum in Wien ablegen. Das vielleicht entscheidende Ereignis seiner Jugend fand im Jahre 1895 während eines Ausfluges um Szentpéterfalva statt. Dort entdeckte er und seine Schwester Ilona fossile Knochenreste eines Dinosauriers, die er an den Geologen und Paläontologen, Professor Eduard Suess, nach Wien schickte. Von seiner Matura 1897 bis zum Jahre 1903 studierte Nopcsa u. a. bei Suess an der Universität Wien, die damals eine Hochburg der paläontologischen Forschung war.

Nopcsa entwickelte sich selbst schnell zu einem begabten Forscher der Paläontologie. Schon als 22-jähriger hielt er am 21. Juni 1899 in der Klassensitzung der Akademie der Wissenschaften in Wien seinen ersten Vortrag mit dem Titel Dinosaurierreste in Siebenbürgen, der großes Aufsehen erregte. Er gilt u. a. als Begründer der Paläophysiologie, vor allem mit seinen auch im Ausland anerkannten Studien über fossile Reptilien. Bekannt wurden seine Hypothesen von 'running proavis', von der Warmblütigkeit der Pterosaurier und von der Bedeutung bestimmter endokriner Vorgänge, die er für die Evolution und das Aussterben der Riesenwüchse für bedeutsam hielt. Obzwar nicht alle seine Theorien ohne Widerspruch angenommen wurden, befruchteten und prägten sie weite Gebiete der paläontologischen Forschung. Ebenso groß waren Nopcsas Verdienste in der Geologie, etwa bei der Forschung der tektonischen Struktur der westbalkanischen Gebirge, bei der er manchmal gewagte Theorien vertrat.

In späteren Jahren wurde er auch zu einem der führenden Albanienforscher seiner Zeit. Seine albanologische Veröffentlichungen aus den Jahren zwischen 1907 und 1932 umreißen in erster Linie folgende Gebiete: Vor- und Frühgeschichte, Ethnologie, Geographie und Neuere Geschichte sowie das albanische Gewohnheitsrecht, d. h. den Kanun. Die frühen Arbeiten wie Das katholische Nordalbanien (Budapest 1907), Aus Šala und Klementi (Sarajevo 1910) und Haus und Hausrat im katholischen Nordalbanien (Sarajevo 1912) sowie Beiträge zur Vorgeschichte und Ethnologie Nordalbaniens (Sarajevo 1912) enthalten eine Fülle von Beobachtungen aus den obengenannten Bereichen, auch wenn das Material aus heutiger Sicht wenig systematisiert erscheinen mag. In späteren Jahren, als er sich sozusagen zur Ruhe gesetzt hatte und den Balkan nicht mehr so aktiv bereiste, erschienen anspruchsvollere Werke, die einem wissenschaftlichen Anspruch in jeder Hinsicht genügen. Die bekanntesten dieser Arbeiten sind: Bauten, Trachten und Geräte Nordalbaniens (Berlin & Leipzig 1925) und vor allem seine grundlegende, 620-seitige Monographie, Geologie und Geographie Nordalbaniens (Öhrlingen 1932), die unter seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Werken als Gipfel seiner albanologischen Forschung gelten kann.

Nopcsas Publikationsliste, als Anlage am Ende dieses Bandes mit veröffentlicht, umfaßt insgesamt über 186 Titel, hauptsächlich aus den drei obengenannten komplexen Bereichen der Paläontologie, Geologie und Albanienforschung.

Sein frühzeitiger Tod ließ allerdings Bedeutendes unveröffentlicht. Der wissenschaftliche Nachlaß Nopcsas ging, soweit er paläontologischer Natur war, an das British Museum in London. Der albanologische Teil der Hinterlassenschaft ging an seinen Kollegen und ebenfalls bekannten Albanologen, Professor Norbert Jokl (1877-1942), in Wien. In einem Schreiben vom 24. April 1933, seinem Todestag, hatte Nopcsa Herrn Jokl eine Liste der ihm überlassenen Manuskripte gegeben und ihn gebeten, sich mit Paul Graf Teleki in Budapest in Verbindung zu setzen, damit dieser die Mittel für eine Veröffentlichung beschaffe. Aus finanziellen Gründen ist es allerdings nicht zu einer Veröffentlichung dieser zum Teil grundlegenden Werke gekommen. Seit dem gewaltsamen Tod von Jokl Anfang Mai 1942 wird der albanologische Nachlaß Nopcsas in der Handschriften-, Autographen- und Nachlaß-Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in der Wiener Hofburg aufbewahrt.

Aus dem Wiener Nachlaß sind vor allem fünf Manuskripte zu erwähnen: 1.) Albanien: die Bergstämme Nordalbaniens und ihr Gewohnheitsrecht, Ser. nov. 9392, ein Werk von 510 durchgehend paginierten Blättern, das erfreulicherweise zu einem großen Teil in dem Band Die Stammesgesellschaften Nordalbaniens, Berichte und Forschungen österreichischer Konsuln und Gelehrter, 1861-1917 (Wien-Köln-Weimar 1996) von Fatos Baxhaku und Karl Kaser veröffentlicht wurde; 2.) Religiöse Anschauungen, Sitten und Gebräuche, Ser. nov. 9393, ein Werk zur albanischen Volkskunde in 242 Blättern, wobei die ersten 58 Blätter leider fehlen; 3.) Die Gedichte des Colez Marku, 1895-1932, Ser. nov. 11912, ein Lyrikband in deutscher Sprache mit insgesamt 160 eher bescheidenen Gedichten auf 110 Blättern; 4.) Dialektstudie (Fragment), Ser. nov. 11918, Anmerkungen zur nordwestgegischen Mundart nördlich von Shkodra auf 36 losen Blättern von unterschiedlichem Format; und vor allem 5.) die hier zum ersten Mal veröffentlichten Lebenserinnerungen des Baron Nopcsa unter dem Titel Reisen in den Balkan, Ser. nov. 9368.

Die fünfteilige Monographie Reisen in den Balkan, auch irrtümlicherweise als Nopcsas Tagebücher bezeichnet, besteht aus insgesamt 456 mit einer Schreibmaschine getippten und teilweise auch handschriftlichen Blättern, die der Verfasser etlichen Korrekturgängen (mit sieben verschiedenen Farbstiften) unterworfen hatte. Nach der Numerierung fehlen im 4. Teil die Seiten 51-55. Sonst scheint das Werk vollständig zu sein, auch wenn bei der Korrekturarbeit der letzte Schliff fehlen mag.

Es kann angenommen werden, daß Nopcsa schon vor dem Ende des Ersten Weltkrieges mit einer ersten Niederschrift seiner Lebenserinnerungen angefangen hatte. Als Grundlage hierfür verwendete er seine lang als verschollen geglaubten Notizbücher, die er während seiner Balkanreisen stets bei sich trug. Sieben dieser mit kurzen Notizen, Terrainaufzeichnungen, Reiseskizzen, Zahlen und Rechnungen versehenen Bände, davon sechs Albanien betreffend und ein siebter über Bulgarien, wurden 1990 vom Herausgeber in den albanologischen Beständen der Nationalbibliothek in Tirana aufgefunden [Signatur DR2/3F bis 8F]. Sie betreffen die folgenden Zeiträume: Bd. 1 (1905), 430 S.; Bd. 2 (1906), 580 S.; Bd. 3 (1907), 474 S.; Bd. 4 (1908), 316 S.; Bd. 5 (1909), 686 S.; und Bd. 6 (1913), 213 S.

Diese Oktav-Bände, wie vermutlich viele anderen Werke aus der Privatbibliothek von Nopcsa, wurden nach dem Tod des Autors vom Buch- und Kunst-Antiquariat Heinrich Hinterberger, Hegelgasse 17, in Wien, für 150 Schweizer Franken zum Verkauf angeboten und gelangten in die Sammlung des albanischen Publizisten Mid'hat Bey Frashëri (1880-1949), auch als Lumo Skendo bekannt, der mit 20.000 Bändern damals die größte Privatbibliothek Albaniens besessen haben soll. Da Frashëri während des Zweiten Weltkrieges ein bedeutender Führer der antikommunistischen Widerstandsbewegung Balli Kombëtar war und mit dem Sieg Enver Hoxhas 1944 Albanien in Richtung Süditalien verlassen mußte, wurde seine berühmte Sammlung von den kommunistischen Behörden beschlagnahmt. Sie bildet einen wesentlichen Grundstock des albanologischen Fundus der jetzigen albanischen Nationalbibliothek (BKT). Bis zum Ende der Diktatur standen diese Vorkriegsbestände nur ausgewählten Wissenschaftlern zur Verfügung.

Die Lebenserinnerungen umfassen einen zwanzigjährigen Zeitraum von 1897 bis zum Jahre 1917, als Nopcsa erst vierzig Jahre alt wurde. In einem Brief an Jokl vom 8. Oktober 1928 schrieb Nopcsa, daß er 1918 sein Notizbuch verloren habe, was den ziemlich plötzlichen Abbruch der Memoiren im Jahre 1917 erklärt.

Die vorliegende Fassung dürfte um 1929 zusammengestellt worden sein, als Nopcsa deren Veröffentlichung geplant hatte. Der Stadium-Verlag in Budapest hatte sich bereit erklärt, eine ungarische Übersetzung des Werkes zu veröffentlichen. Kálmán Lambrecht, der durch Nopcsas Verwendung Bibliothekar der Geologischen Reichsanstalt in Budapest war, wurde mit der Übersetzung beauftragt und gleichzeitig mit der undankbaren Aufgabe betraut, Nopcsas zahlreiche Änderungswünsche vor dem Verlag zu vertreten. Nach vielem Hin und Her zog der Verlag sein Angebot zurück. Aus diesem Grund zerschlugen sich auch die Verhandlungen über eine deutsche Ausgabe des Werkes (vgl. Tasnádi Kubacska 1945, S. 275-277, Robel 1966, S. 135-136.).

Zum Leben und Werk des Baron Nopcsa ist viel geschrieben und veröffentlicht worden, so daß auf einen eingehenden Lebenslauf vor und nach dem Balkankrieg hier verzichtet werden kann. Als Orientierung seien hier kurz auf die wesentlichen, Nopcsa betreffenden Veröffentlichungen hingewiesen. Der erste Versuch, Nopcsas Leben, Werk und Wirkung publizistisch darzustellen, wurde von András Tasnádi Kubacska unternommen, und zwar in einer ungarischen, Nopcsa Ferenc kalandos élete (Budapest 1937), und einer deutschen Fassung, Franz Baron Nopcsa (Budapest 1945). Tasnádi Kubacska würdigte Nopcsa in erster Linie als Naturwissenschaftler, ging also weniger auf seine Leistungen als Albanienforscher und politische Figur ein. Stets bemüht, Nopcsa in ein gutes Licht zu stellen, fehlte es ihm bisweilen an Sachlichkeit und Distanz zu seiner Vorlage. In der deutschen Fassung enthält das Buch aber nicht nur eine nützliche Bibliographie der Nachrufe und der zwischen 1920 und 1938 erschienenen Zeitungsartikel zu Nopcsa sondern umfaßt auch Nopcsas Korrespondenz mit Friedrich Baron Huene, Lucas Waagen, Ludwig von Lócsy und Kálmán Lambrecht. Eine umfassende Bibliographie der Werke Nopcsas wurde erst von Kálmán Lambrecht in einem in der Paläontologischen Zeitschrift 15 (1933) veröffentlichten Nachruf mit dem Titel Franz Baron Nopcsa, der Begründer der Paläophysiologie, 3. Mai 1877 bis 25. April 1933. Unverzichtbar als Quelle für das Leben und Werk Nopcsas ist in erster Linie die in der Reihe 'Albanische Forschungen' erschienene Abhandlung Franz Baron Nopcsa und Albanien, ein Beitrag zu Nopcsas Biographie (Wiesbaden 1966) von Gert Robel. Grundlage für diese informative und kritische Monographie ist das obenerwähnte Wiener Manuskript der Lebenserinnerungen, das hier nun veröffentlicht wird. Robel geht ausführlich nicht nur auf Nopcsas wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Albanienforschung ein, sondern auch auf sein Engagement in der albanischen Frage und auf die politischen Hintergründe der Jahre vor, während und nach den Balkankriegen 1912-1913. Nopcsa war ein scharfer, wenn auch nicht immer objektiver Beobachter des Zeitgeschehens auf der Balkan-Halbinsel am Anfang des 20. Jahrhunderts. Vieles, was in seinen Memoiren geschildert wird, wird durch Robel in ein sachlicheres Licht gerückt und erst durch ihn verständlich gemacht. Schließlich bedarf auch die Bibliographie Franz Baron von Nopcsa, Anmerkungen zu seiner Familie und seine Beziehungen zu Albanien von József Hála (Wien 1993) einer Erwähnung.

Als Wissenschaftler ist Nopcsa von vielen hinlänglich gewürdigt geworden. Als Mensch ist Nopcsa gerade in den Memoiren aber viel schwieriger zu fassen. Über seine engsten und intimsten menschlichen Beziehungen schreibt Nopcsa wenig. Seine Memoiren geben nur sehr indirekte und wahrscheinlich ungewollte Schlüsse zu seiner Homosexualität preis: etwa seine Bewunderung für junge k.u.k. Offiziere in Uniform, seine frühe Liebe zu Louis Draškovic (1879-1909), seine offensichtliche Neigung zu rumänischen Schafhirten sowie seine langjährige intime Beziehung zu seinem albanischen Sekretär Bajazid Elmas Doda (ca. 1888-1933), der mit ihm starb. Sonst behält der Verfasser seine Gefühle weitgehend für sich. Robel kommt zu folgendem Schluß: "Überschaut man, rückblickend, Nopcsas Leben, so drängt sich vor allem die Vielschichtigkeit und innere Widersprüchlichkeit dieses Menschen dem Betrachter auf. Eine genial zu nennende Intuition steht dem Unvermögen, die Motive anderer zu erfassen und zu würdigen, kraß gegenüber, harter Egoismus der Liebe zu den Albanern, kühl prüfender Intellekt der emotionalen Voreingenommenheit" (Robel 1966, S. 161). Gewiß wird Nopcsa dem Leser nicht immer als angenehmer Zeitgenosse vorkommen. Er erscheint stets geltungsbedürftig, öfter streitsüchtig und arrogant und bisweilen offen antisemitisch. Wenn auch einiges aufgrund seiner Herkunft und seines Milieus verständlich ist, bleibt vieles an seinen Charaktereigenschaften, Beweggründen und inneren Gefühlen verborgen und undurchsichtig.

Wenn Tasnádi Kubacska und Lambrecht in erster Linie auf Nopcsa als Naturwissenschaftler eingehen, so würdigt der zu Lobpreisungen keineswegs geneigte Robel eher seine grundlegende Bedeutung als Albanologe: "Sein Tod, der von seinen Freunden beklagt, von seinen Kollegen bedauert wurde, bedeutete nicht nur für die Paläontologie und die Geologie einen Verlust. Seine beiden großen Manuskripte über Albanien, die wichtigstes ethnologisches Material enthalten, verschwanden nach seinem Tod und blieben bis heute ungedruckt. Dies ist um so mehr zu bedauern, als es wohl kaum einen Mann gab, der mit solcher Schärfe registrierte und festhielt, was er erlebte, und der zu dieser Zeit sich in Albanien über einen längeren Zeitraum aufgehalten hat. Nopcsa hat mit einer fast universal zu nennenden Neugier gesammelt und notiert, was ihm in diesem Lande begegnete - der Verlust seiner Notizbücher wiegt schwer. Ihm wurde noch zuteil, das 'alte' Albanien zu erleben, ehe das Land von der 'Zivilisation' erfaßt wurde und die alte Ordnung mit ihren Sitten und Gebräuchen verschwand. Die Kombination von wissenschaftlicher Neugier, Beobachtungsgabe und eminentem Fleiß, durch die er sich auszeichnete, machte ihn wie kaum einen zweiten berufen, das Bild dieses 'alten' Albanien festzuhalten und weiterzugeben. Die Ungunst der Zeiten hat dieses Unterfangen, zu dem er bereit war, nur fragmentarisch zur Ausführung kommen lassen. Allein auch das unvollendete Werk sichert ihm noch heute einen Platz unter den bedeutendsten Albanologen.

Seine Schwächen, unter denen er und seine Zeitgenossen, soweit sie mit ihm in Berührung kamen, gelitten haben, wiegen demgegenüber wenig. Sie erscheinen dem außenstehenden Betrachter - so schmerzlich sie auch für alle davon betroffenen gewesen sein mögen - als wohl zu bedauernde Nebenerscheinungen der 'überspitzten' Zielstrebigkeit und der ungeheuren Energieanspannung, mit denen Nopcsa seine Vorhaben durchführte - und ohne die es ihm kaum möglich gewesen wäre, ein derart fruchtbares und umfangreiches Werk zu hinterlassen...

Sowohl nach Umfang wie nach Bedeutung gehört Nopcsas Beitrag zur Albanologie zu den größten, die auf diesem Gebiet geleistet wurden. Es mindert sein Werk keineswegs, wenn der 'Außenseiter' in Einzelheiten irrte und manchen Bezug, der sich dem Ethnologen heute ergibt, nicht herstellte, sei es, daß er ihn nicht sah, sei es, daß er das Problem nicht entdeckte. Auch der Historiker und der vergleichende Rechtshistoriker wird Einzelheiten anders einordnen. Aber alle diese Vorbehalte beziehen sich auf Details, sie ändern nichts daran, daß Nopcsa einen außerordentlich weit gespannten Bereich als erster systematisch erfaßt und dargestellt hat. Der Bogen spannt sich von der Entstehung der Stammesorganisation, wie er sie am Beginn der 20. Jahrhunderts in Nordalbanien erlebt hatte, über die Erfassung der Rechtssatzungen dieser Stämme und deren Einordnung in die allgemeine Rechtsgeschichte, die Sitten und Gebräuche der Nordalbaner bis hin zu den Gegenständen ihres täglichen Lebens und schließlich zur Landschaft, in der diese Menschen lebten... Was aber Nopcsas großes Verdienst ist: Er erkannte, daß Albanien Fragen aufwarf, und er zögerte nicht, sie zu beantworten, so gut es ihm möglich war. Das Ergebnis ist ein Werk von seltener Größe, Produkt eines außerordentlichen Arbeitsfleißes und genialen Erfassens der wissenschaftlichen Fragen. Man wird auch auf sein albanologisches Werk Tilly Edlingers Worte ausdehnen dürfen, die sie seinen paläontologischen Arbeiten widmete: "Dem überwältigend produktiven Feuergeist sind nur erstaunlich geringe wissenschaftliche Irrtümer unterlaufen..." Und es ist zutiefst zu bedauern, daß es Nopcsa nicht vergönnt war, die beiden großen Manuskripte, die er schließlich Norbert Jokl hinterließ, der Öffentlichkeit zu übergeben. Sein Ansehen als Forscher hat dies freilich kaum geschmälert - er hat sich auch mit den bereits veröffentlichten Untersuchungen einen gebührenden Platz in der Albanologie gesichert" (Robel 1966, S. 137, 162-163).

Nun nach beinah einem dreiviertel Jahrhundert liegt das zweite der großen Manuskripte dem Leser vollständig vor, welches das Bild des großen Albanienforschers, des großen Paläontologen und des großen Geologen zu vervollständigen helfen wird.

Zu dem Manuskript bleibt lediglich auf Technisches hinzuweisen. Bei der Vorbereitung wurde die Orthographie auf die heutige Norm gebracht. Orts- und Personennamen aus dem Balkanbereich wurden soweit wie möglich auch standardisiert, etwas Shkodra für Skutari, wobei der Herausgeber für einige Ortsnamen bekanntere Alternativbezeichnungen in runden Klammern hinzugefügt hat. Auch wurde vom Herausgeber zum besseren Verständnis des Textes eine Reihe von Fußnoten angegeben. Sonst wurde dem Verfasser seinen altertümlichen k.u.k. Stil, seine siebenbürgische Sprache und seine bisweilen umständliche Ausdrucksweise, einschließlich Sprachfehler und Ungarismen weitgehend gelassen. Auch wenn dem Leser eventuell einiges an Geduld abverlangt wird, wird sich die Mühe mit Sicherheit lohnen.

 

 

[Einleitung zu: Robert Elsie: Reisen in den Balkan. Die Lebenserinnerungen des Franz Baron Nopcsa. Dukagjini, Peja 2001.]

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Franz Baron Nopcsa in Malessorentracht, ca. 1916.